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Barbara Rose Brooker
Copyright 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «The Viagra Diaries» bei Gallery / Simon & Schuster, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Copyright 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, «The Viagra Diaries» Copyright 2013 by Barbara Rose Brooker Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther Satz Baskerville PostScript (InDesign) bei Druck und Bindung CPI – Clausen & Bosse, Leck Dieses Buch widme ich, mit all meiner Liebe, meinen Töchtern, Suzy Unger und Bonny Lisa Osterman, sowie Emilia Pisani, meiner klugen Lektorin, die dieses Buch erst möglich gemacht hat, und David Vigliano, dem besten Agenten von allen. Auch meinen Studentinnen und Studenten gebührt meine höchste Anerkennung, sie sind die Umherwirbelnde Sterne, entfesselte Emotionen und pulsieren-de Farben: Van Goghs Die Sternennacht entführt mich in ganz andere Sphären. Was für ein unglaubliches Bild. Wow. Kunst ist wirklich das Größte.
Na, wie dem auch sei. Ich heiße Anny Applebaum, bin fünf- undsechzig Jahre alt und schreibe für die San Francisco Times eine Lifestyle-Kolumne speziell für Senioren. Jetzt gerade bin ich im San Francisco Museum of Modern Art und mache mir Notizen für meine nächste Kolumne. Sonst schreibe ich eher über Re-staurants, altersgemäße Fitness-Studios, gesellschaftliche Ereig-nisse, all so etwas, aber diesmal habe ich mir überlegt, meinen Lesern mit einem Artikel über Kunst etwas anspruchsvollere geistige Kost zu bieten.
Langsam wird es spät, deshalb laufe ich eilig die Treppe hinun- ter in die imposante Eingangshalle aus Marmor, in der all diese grandiosen Skulpturen von Calder von der Decke baumeln, und trete aus dem Museum ins Freie. Es regnet in Strömen, und da ich leider meinen Regenschirm verloren habe, ziehe ich den Kopf ein und laufe los, so schnell es meine Lederstiefel mit den Zehn-Zentimeter-Absätzen erlauben. Jetzt zur Rushhour herrscht Hochbetrieb auf den Straßen, Leute spannen Schirme auf und hasten an mir vorbei, um ihre Busse oder Straßenbahnen zu erwischen. Himmel, wie unfassbar schön San Francisco doch ist, all diese Hügel, die sich um die Bucht herumziehen. Ich bin hier geboren und werde dieser Stadt wohl niemals überdrüssig. Es ist, als würde man in einer dieser kleinen Schneekugeln leben.
Ich gehe an den Häuserfronten vorbei in Richtung Union Square. Mittlerweile bin ich völlig durchnässt. Eigentlich würde ich gern den nächsten Bus nach Hause nehmen, aber der Regen wird immer heftiger, und jetzt blitzt es auch noch. Kurz ent-schlossen rette ich mich in ein Café, um dort im Trockenen ab-zuwarten, bis das Gewitter vorbei ist.
Das Café ist klein und gemütlich. Einige Leute sitzen an den Tischen und arbeiten an ihren Laptops. Ich schäle mich aus mei-nem Mantel und schüttele kurz die Nässe heraus, nehme meinen schwarzen Filzhut ab und setze mich an einen Tisch am Fenster. Ich bestelle mir einen Kaffee, mit dem Hintergedanken, schon mal einige Ideen für meine morgige Kolumne aufzuschreiben, aber da klingelt mein Handy. Es ist Monica, meine Chefredak-teurin. Seit fünf Jahren arbeite ich für die Zeitung, und sie ruft nur selten an, ich weiß also sofort, dass irgendetwas Wichtiges anliegt. «Hallo», melde ich mich gut gelaunt.
«Schlechte Neuigkeiten», kommt Monica ohne Umschweife zur Sache, ehe ich weiterreden kann. Sie benutzt die Freisprech-anlage, und ich kann mir gut vorstellen, wie sie gerade eine Zigarette raucht. «Die Verkaufszahlen der Zeitung sind drastisch zurückgegangen.» «Die Kolumne morgen wird großartig», versichere ich eilig. «Ich schreibe über van Gogh und darüber, dass das Museum ein Ort ist, an dem Senioren – » «Anny, unsere Senioren tragen Windeln. Die haben mit van Gogh nichts am Hut. Es gibt keinen Markt für Senioren. Sie müssen sich irgendetwas Neues einfallen lassen, etwas Kontro-verses, sonst muss ich die Kolumne einstellen», stellt Monica mit ihrer Stakkatostimme unverblümt klar.
«Zahlreiche Senioren schreiben mir, dass sie die Altersdis- kriminierung leid sind», sage ich, bemüht, mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen.
«Die San Francisco Times muss in erster Linie Geld einbringen, da haben Fans nichts zu bedeuten», stellt Monica nüchtern fest. «Nada. ‹Senioren und Politik› kann ich nicht veröffentlichen, weil Sie vor allem über Ihre Anti-Kriegs-Ansichten schreiben und darüber lamentieren, wie verkorkst die Welt ist.» «Ich habe nur geschrieben, dass ich den Irakkrieg für falsch halte und dass Senioren sich engagieren und dagegen protestie-ren sollten.» «Sie sind nicht Christiane Amanpour. Wenn wir es auf eine Politkolumnistin abgesehen hätten, würden wir eine einstellen. Ich habe Sie gewarnt, sich mit Ihren Meinungsäußerungen künftig zurückzuhalten. Stattdessen gehen Sie her und prangern die ‹unhaltbaren Zustände› an, die angeblich im Happy-Con-valescent-Pflegeheim herrschen! Die Zeitungseigentümerin hat mich deswegen angerufen, mehrmals. Und mit der ist nicht zu spaßen.» Ich hätte größte Lust, Monica darauf hinzuweisen, dass ich ebenfalls Seniorin bin und es mir nicht gefällt, in welchem Ton sie über ältere Leute redet. Aber ich beiße mir auf die Zunge, ermahne mich, besser nicht auf Konfrontationskurs zu gehen. «Diesen Stempel ‹Senioren› finde ich grauenhaft. Wie überhaupt Schubladen aller Art: schwul, normal, ältere Mitbürger», stelle ich betont freundlich klar. «Ich mag zwar fünfundsechzig sein, aber ich bin keine ‹Seniorin›. Ich bin ein Mensch. Sobald man fünfzig ist und nicht aussieht wie eine dieser aufgedonnerten Hausfrauen aus Orange County, gehört man in die Kategorie ‹Betreutes Wohnen›. Über diese Altersdiskriminierung würde ich gerne schreiben. Das ist ein kontroverses Thema.» «Mal ehrlich, Anny. Artikel übers Altwerden will kein Mensch lesen. Und für Senioren, die sich aufführen wie John Travolta in Saturday Night Fever, interessieren sich unsere Leser ebenfalls nicht. Die meisten unserer Senioren sitzen nun mal im Rollstuhl und haben schon einen Schlaganfall hinter sich. Wenn Sie sich nicht irgendwas Heißes, Kontroverses einfallen lassen, muss ich Sie leider freistellen.» «Okay. Nichts für ungut, Monica, aber Sie sind gerade acht- unddreißig und bekommen diese Altersdiskriminierung ja nicht zu spüren. Wie dem auch sei, ich werde mir etwas einfallen lassen.» «Hey, Anny. Ich glaube an Sie. Wir arbeiten jetzt seit fast sechs Jahren zusammen. Ich habe Sie wirklich gern, aber ich unterstehe nun einmal Bunny Silverman, die der Annahme ist, wir wären die New York Times. Also liefern Sie etwas, das bei den Lesern auf gewaltige Resonanz stößt. So, ich muss Schluss machen.» Nachdem ich aufgelegt habe, zittere ich am ganzen Leib und fühle mich einer Panik nahe. Hätte ich doch bloß meine Papier-tüte dabei. Wenn meine Nerven flattern, beruhige ich mich näm-lich, indem ich in eine Papiertüte puste. Als Notbehelf halte ich mir eine Papierserviette vor den Mund und bemühe mich, ganz tief und ruhig zu atmen. Bitte, lieber Gott, ich darf meine Kolumne nicht verlieren. Ich brauche das Geld. Auch so schon, trotz Medicare und Sozialhilfe und dem Erlös, den ich hin und wieder aus dem Verkauf eines meiner Bilder erziele, komme ich kaum über die Runden. Hier sitze ich nun, eine geschiedene Zeitungskolumnis-tin von fünfundsechzig Jahren, die kein Geld hat und auf einem Bettsofa nächtigt. Aber ich wünsche mir Ruhm, Reichtum und eine Liebe, die nie vergeht. All das wünsche ich mir, nicht mehr und nicht weniger. Und ich habe es satt, mir von allen anhören zu müssen, ich sei zu alt. Träume hat man immer, das hat mit dem Alter nichts zu tun.
So lange ich denken kann, wollte ich Autorin sein. Ich malte mir sogar aus, eine berühmte Journalistin wie Diane Sawyer zu werden, in irgendeinem gottverlassenen Land im strömenden Regen zu stehen, mit pitschnassem Haar, während hinter mir die Welt in Trümmer fällt, und dann ins Büro zu hetzen, um darüber zu schreiben. Bisweilen ist es schwer, sich einzugeste-hen, dass so viel Zeit vergangen ist, ohne dass irgendetwas Welt-bewegendes passiert wäre.
Ich bestelle mir noch einen Kaffee, beobachte die Cable Cars, die draußen den Berg hinauftuckern, und denke dabei an die Jahre zurück, in denen ich an einem Roman geschrieben habe, den ich allerdings nach meiner Hochzeit beiseitelegte, ohne ihn zu beenden. Daran, wie ich mit über dreißig noch ein Aufbau-studium absolviert und meinen Abschluss in Kreativem Schrei-ben gemacht habe. Nach der Scheidung dann meine ersten Geh-versuche als Journalistin bei mehreren Boulevardblättchen, bei denen ich mein Geld mit Prominentenklatsch und -tratsch und Restaurantkritiken verdiente. Es war eine schreckliche Zeit, bis ich dann vor fünf Jahren mein Glück bei Monica versuchte – ich habe sie in ihrem Büro förmlich mit Ideen für Texte über Senioren bombardiert, die ich mir auf einer Liste notiert hatte, bis sie mir lächelnd Einhalt gebot: «Schon gut. Sie sind einge-stellt. Ihre Ideen gefallen mir.» Ich beobachte den Regen, der an den Fenstern hinabrinnt, und erinnere mich an den Tag, als Donald mir eröffnete, dass er sich scheiden lassen wollte. In der Tasche eines seiner Sak-kos habe ich eine Packung Viagra gefunden, und als ich ihn deswegen zur Rede stellte, räumte er ohne Umschweife ein, es regelmäßig mit Conchita zu treiben, unserer zwanzigjährigen Haushälterin, und verlangte die Scheidung. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, meldete er danach auch noch Insolvenz an und machte vor dem Scheidungsrichter Zahlungsunfähigkeit geltend. Ich erhielt eine kleine Abfindung und zog in meine ak-tuelle Wohnung hier in San Francisco. Er hat unmittelbar nach der Scheidung Conchita geheiratet und mit ihr zwei Söhne be-kommen. Ich war am Boden zerstört, gelinde gesagt. Und er hat sich nie bei Emily gemeldet, unserer Tochter, die noch heute, mit einundvierzig, auf einen Anruf wartet. Es ist erbärmlich. Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen Emily. Donald und ich waren nicht gerade die besten Eltern der Welt. Ich war meist mit Malen oder Schreiben beschäftigt und hing meinen Träumen von einer Karriere nach. Donald war in seiner An-waltskanzlei stark eingespannt und obendrein sehr aktiv im Immobilienhandel, und so war Emily schon früh gezwungen, selbständig zu werden und den fürsorglichen Part in der Familie zu übernehmen.
Endlich hört der Regen auf. Ich zahle und stelle fest, dass ich noch den Fünf-Uhr-Bus erreichen kann. Zu Hause will ich spä-ter am Abend an meinen Kisten arbeiten. Ich gestalte nämlich Kisten. Kästen, Schachteln und Boxen aller Art faszinieren mich irgendwie. Ich lese sie auf Baustellen auf, finde sie auf der Stra-ße oder in kleinen Läden und erschaffe in ihnen kleine Welten, winzige Szenen, die mich zu meinen gemalten Bildern inspirie-ren. Aber in letzter Zeit bin ich in eine Art Trott geraten, und meine Arbeit fühlt sich trist und einförmig an.
Ich knöpfe meinen schwarzen Ledermantel zu, verlasse schnell das Café und haste den Hügel zur Sutter Street hinauf, wo ich meinen Bus gerade noch erwische.
Der Bus ist ziemlich voll, aber ich erspähe vorne noch einen «Hey, Oma. Immer schön langsam», sagt ein pickelgesichti- ger Junge in einem übelriechenden Parka und schnappt mir den Platz vor der Nase weg. Ich stutze kurz, bin völlig perplex, und quetsche mich dann in den hinteren Teil des Busses durch, wo ich zum Glück noch einen freien Sitzplatz am Fenster finde.
Während der Bus gemächlich über die Hügel gondelt, vorbei an Reihen bonbonfarbener viktorianischer Häuser, betrachte ich mein Spiegelbild im Fenster und frage mich, ob ich alt aus- sehe. Ich habe Ringe unter den Augen, und mein braunes Haar hängt mir schlapp auf die Schultern. Kein Vergleich zu den jungen Frauen in der Shampoowerbung, deren Haar so seidig ist, dass es förmlich in der Luft schwebt. Aber, was heißt ei-gentlich alt? In diesem Land gilt doch mittlerweile jeder und alles über zwanzig als alt. Ich schließe die Augen und denke an meinen Besuch vergangene Woche bei Emily. Sie wohnt in Berkeley, zusammen mit ihrem Freund Harry, einem fünfzigjäh-rigen Architekten, und ihrem schwarzen Labrador Fred. Beide haben mich gedrängt, es mal bei JDate zu versuchen, einer In-ternet-Partnerbörse; es sei höchste Zeit, dass ich endlich einen neuen Mann kennenlerne. «Ehe du zu alt bist und in einem Pflegeheim endest, Mama», sagte Emily. Aber ich habe mich dagegen gewehrt, erklärt, dass ich mich davor scheue, online Bekanntschaften zu suchen. Emily macht sich immer Sorgen um mich und will mir vorschreiben, was ich zu tun habe. Das macht mich wahnsinnig.
Seit der Scheidung gehe ich nicht mehr oft unter Leute. Die einzigen Menschen, mit denen ich mich regelmäßig treffe, sind meine besten Freundinnen Janet und Lisa – wir telefonieren außerdem jeden Abend und erzählen uns von unserem Tag, überhaupt erzählen wir uns alles – und Ryan McNally, mein Nachbar. Ryan ist zehn Jahre jünger als ich und Fotograf, ein preisgekrönter sogar. Zurzeit arbeitet er für National Geographic. Kennengelernt haben wir uns vor neun Jahren im Wäschekeller. Ich war gerade erst eingezogen, und wir warteten beide darauf, dass unsere Wäsche im Trockner endlich fertig wurde. Wir kamen ins Plaudern, und ich erzählte ihm von meiner damals erst kürzlich zurückliegenden Scheidung. Er wiederum vertraute mir an, dass er Witwer ist. Mittlerweile sind wir gute Freunde, und wenn er nicht um die Welt reist und fotografiert, gehen wir zusammen ins Kino, besuchen Museen und Vernissagen und diskutieren unsere Arbeiten. Er ist in Kunstdingen überaus be-wandert, und die Liebe zur Kunst verbindet uns beide. An den Wochenenden fährt er immer raus nach Sebastopol, wo er ein Landhaus hat und Blumen züchtet.
Der Bus hält am Broadway, und ich steige aus. Inzwischen ist es dunkel geworden, und am Himmel zeigt sich der Mond. Ich schlendere gemächlich die zwei Blocks entlang bis zu meinem Haus. Bei den Rosenstöcken neben dem Eingang bleibe ich kurz stehen, weil ich bei ihrem Anblick daran denken muss, wie Ryan zwei Monate zuvor, kurz vor seiner Abreise nach Holland, rosarote Rosen für mich abgeschnitten und mich sorgsam instru-iert hat, die Stiele zunächst unter laufendem Wasser zu kappen, ehe ich sie in eine Vase stellte.
Dann gebe ich mir einen Ruck, schließe die Haustür auf und trete in die in maurischem Stil gehaltene Eingangshalle, haste an dem nachgeahmten Wasserfall vorbei und die schiefe, aus-getretene Treppe hinauf. Aus den Wohnungstüren dringen al-lerlei verlockende exotische Gerüche, nach persischer Küche und nach Imbissgerichten vom Chinesen. Als ich an dem leer-stehenden Apartment vorbeikomme, kommt mir unwillkürlich in den Sinn, dass ich nicht mutterseelenallein auf meinem Bett-sofa sterben möchte wie die arme Mrs. Nelson, die in einem Leichensack auf einer Bahre in den Flur herausgetragen wurde, vor aller Augen.
Ich schließe meine Wohnungstür auf und bin froh, dass nun Nach einem dürftigen Abendbrot, bestehend aus Ölsardinen und Kräckern, und der täglichen Dosis deprimierender Nach- richten auf CNN ziehe ich mich um und wechsle in meine Ar-beitskluft, eine mit Farbe bekleckste Jeans und ein altes Hemd. Ich binde mein Haar zu einem Pferdeschwanz, lege eine CD mit Salsamusik ein und drehe sie richtig laut auf. Ohne Musik kann ich nicht arbeiten. Ich bereite meine Palette vor und lege meine Pinsel und Werkzeuge zurecht.
Zunächst arbeite ich an den Romantik-Kisten, einem Set Käs- ten aus Acrylglas, auf die ich in Chinatown gestoßen bin und die mit Gedichten und Rosenblütenblättern gefüllt sind. Dann sind da noch die Hängenden Kisten, Gummikästchen, die an schmalen, in sich verschlungenen Kordeln von der Decke baumeln; ich habe sie in einem Laden für Zaubererzubehör aufgetan. An den Wänden lehnen große Leinwände, die ich zusammen mit Ryan aufgespannt habe. Malen finde ich aufregend. Die Bilder helfen mir, all das zu verstehen, was ich nicht in Worte zu fassen ver-mag. Ein wirklich faszinierender Prozess. Ich arbeite seit einigen Jahren mit einer Galeristin zusammen, und obwohl ich meine Malerei nicht als Einkommensquelle betrachte, träume ich da-von, meine Sachen eines Tages mal in einer Einzelausstellung zeigen zu können.
Meine Wohnung ist zwar klein, wirkt aber dank der luftigen, stolzen fünfeinhalb Meter hohen Decken geräumiger, als sie tatsächlich ist. Glastüren trennen das Wohnzimmer von der winzigen Einbauküche und dem Essbereich, den ich zu meinem Atelier umfunktioniert habe. Beim Bau der hohen Regale für meine Bücher, Farben und Leinwände hat Ryan mir geholfen. Bunte mexikanische Vasen vom Flohmarkt in Marin County sind mit orangegelben Teerosen gefüllt. Egal, wie abgebrannt ich bin, Rosen vom Blumenmarkt gönne ich mir jede Woche. Auf einem weiß lackierten Tisch an der Wand stehen gerahmte Fotos von Emily, Ryan und meinen Freundinnen.
Ich bohre kleine Löcher in die Acrylkästen, in die ich an- schließend winzige Lämpchen stecke, um so den Boden bes-ser zur Geltung zu bringen. Danach arbeite ich weiter an der Hochzeitskiste, einer würfelförmigen Schachtel aus Pappmaché, in die oben kleine Löcher gestanzt sind. Sie soll die jungfräuliche Liebe versinnbildlichen. Ich tauche einen Pinsel in weiße, mit getrockneten Blütenblättern vermischte Acrylfarbe und trage die Farbe auf, bis sie leuchtet. Die nächste Stunde über klebe ich einzelne Perlen in die Löcher.
Danach bin ich erschöpft und höre mit der Arbeit auf. Im Zimmer ist es kalt, und ich schließe die Fenster. Der Regen fällt jetzt in wahren Sturzbächen vom Himmel. Hübsche gelbe Blätt-chen haften an den Fensterscheiben wie durchnässte Sterne; Autos rauschen über nassen Asphalt.
Vor dem Schlafengehen schaffe ich noch etwas Ordnung in meinem eher unordentlichen Zuhause: Ich wasche die Pinsel aus und stelle sie zum Trocknen in eine alte Kaffeebüchse, werfe die Farbtuben in die Plastikbox, die unter meinem Schreibtisch steht. Dann sammle ich rasch die Ausgaben des New Yorker und der New York Times ein, die sich schon wieder zu wahren Stapeln türmen, und packe sie in die Korbtruhe. Im Grunde mag ich Chaos; es ist auch eine Methode, Ordnung zu halten. Ich leide an einer leichten Form von Legasthenie, sodass meine Wörter mitunter rückwärtslaufen. Aber ich habe mein eigenes System, sortiere meine Pinsel, Leinwände und anderes nach Farben. Chaos finde ich anregend; zu viel Ord-nung erstickt mich.
Als ich mich nach getaner Arbeit recke und strecke, fällt mein Blick auf ein Foto von Ryan, das ich vor seiner Abreise nach Holland aufgenommen habe. Er stutzt gerade Rosen. Er beugt seinen muskulösen Oberkörper über die Blumen, sein lockiges blondes Haar, das hier und da graumeliert ist, schimmert im Sonnenlicht.
Bis auf das leise Rauschen des spärlicher werdenden Ver- kehrs, das durchdringende Geheul einer Polizeisirene, das dann und wann durch die Straßen gellt, ist es in dem alten Miets-haus jetzt mucksmäuschenstill. Auf einmal fühle ich mich allein, schrecklich allein, und frage mich beklommen, ob es so nun mein ganzes restliches Leben sein wird. Hin und wieder habe ich eine Horrorvision: Ich erleide einen Schlaganfall, und Emily schiebt mich in ein Pflegeheim ab, wo ich auf einem Liegestuhl in einem Korridor sabbernd vor mich hin dämmere, mit fetti-gen, strähnigen Haaren und einer dicken Brille auf der Nase, in einem billigen, geblümten Nylonschlafrock, an dem mit Klett-band ein Schildchen mit meinem Namen festgepappt ist. Frös-telnd lege ich mir die alte rote Wollstola um die Schultern, die Emily mir vor Jahren selbst gehäkelt hat. Vielleicht haben Emily und Harry doch recht, und ich sollte es mal bei JDate probieren. Emily springt mitunter zwar recht herrisch mit mir um, fast so, als wäre sie die Mutter und ich das Kind, aber oft hat sie auch recht. Wir sorgen uns umeinander.
Und außerdem, was ist schon dabei? Alle Welt tummelt sich schließlich im Internet. Warum also sollte ich mein Glück nicht auch einmal bei JDate versuchen? Es braucht ja niemand zu erfahren.
Dieser Gedanke beflügelt mich, und ich setze mich eilig an Auf meinem Laptop rufe ich die Seite von JDate auf, regis- triere mich und zahle den Beitrag für drei Monate. Ich tippe das Pseudonym ein, unter dem ich auftreten will: LadyAnny. Nach-dem ich einen Fragebogen ausgefüllt und angegeben habe, dass ich Männer zwischen fünfundfünfzig und neunzig bevorzuge, an einer Heirat nicht interessiert, Nichtraucherin und politisch liberal eingestellt bin, verfasse ich meine Anzeige: Kolumnistin, 65, wünscht sich Spaß und Romantik mit einem Mann, der gebildet ist, Humor hat und sich nicht vor dem Regen fürchtet. Nur Mut. Das Alter ist nebensächlich. Treten Sie mit mir in Kontakt.
Schließlich lade ich das neueste Foto von mir hoch, das für mei-ne Kolumne benutzt wird.
Nachdem mir per E-Mail bestätigt worden ist, dass ich nun- mehr offiziell Mitglied bei JDate bin, scrolle ich die nächste Stunde über durch die Profile und stelle überrascht fest, wie viele Männer in fortgeschrittenem Alter – Baby-Boomer wie ich und älter – dabei sind. Bloß, dass die Wunschfrau der meis-ten von ihnen «nicht älter als vierzig, maximal Konfektions-größe 36, fit und finanziell unabhängig» sein soll. Ich amüsiere mich über ihre großspurigen Pseudonyme – SlickDick, Able-Abe, HungHarry – und betrachte Fotos von Astronauten, Chefköchen, Männern auf Segelbooten, die stolz riesige, selbst-gefangene Fische präsentieren oder auf Golfplätzen und neben Privatflugzeugen posieren. Viele tragen ihr Resthaar über die Glatze gekämmt, manche zeigen sich salopp in kurzen Hosen, andere im Smoking, alle geben ihren gesellschaftlichen Status an: Dr. med., Rechtsanwalt, Milliardär, Anlageberater.
Ich klicke diverse Profile an: Da sind ein verwitweter Boots- und Schiffbauer von sechsundsechzig Jahren, ein Therapeut, der ein Buch mit dem Titel Glückliche Frauen geschrieben hat, und ein gutaussehender älterer Mann, groß, schlank, der stolz in Skikleidung oben auf einem schneebedeckten Berg steht. Sein Pseudonym lautet GreatGuy. Seinem Profil zufolge ist er siebzig, ein erfolgreicher Diamantenhändler und wünscht sich eine romantische, «langfristige» Beziehung mit einer «reifen» Frau, die intelligent und unabhängig ist. Dass er explizit nach einer reifen Frau sucht, finde ich sehr sympathisch. Ich teile ihm per E-Mail mit, dass ich ihn gerne demnächst mal kennen-lernen würde.
Als ich am nächsten Morgen meinen Laptop anschalte und mich neugierig bei JDate einlogge, um meine E-Mails zu che-cken, stelle ich verblüfft fest, dass der Diamantenhändler mir bereits geantwortet hat. GreatGuy schreibt: Liebe LadyAnny. Ich heiße Marv Rothstein. Ich würde mich gern am Freitagabend um 18.30 h in der Harris Cocktail Lounge mit Ihnen zum Essen und auf ein paar Drinks treffen. Bitte bestätigen Sie mir den Termin noch per E-Mail. Ich werde einen dunklen Anzug tragen und Sie auf jeden Fall finden. Beeindruckt von seiner prompten Antwort, gebe ich seinen Namen in die Suchmaschine ein und staune nicht schlecht: Er ist ein bekannter Diamantenhändler, dessen Firma Nieder-lassungen in Südafrika, Belgien und Frankreich hat. Zu seinen Kunden zählen lauter namhafte Leute, von Filmstars über Prominente bis hin zu Politikern. Was hat ein Mann wie er bei JDate verloren? Rätselhaft. Ein Date aber, beruhige ich mich, ist er allemal wert.
Wie gewünscht, antworte ich ihm per E-Mail: Ich heiße Anny Applebaum. Abgemacht, treffen wir uns am Freitag um 18.30 h. Ich werde ganz in Schwarz gekleidet sein. Ich habe lan-ges, grau gesträhntes dunkles Haar, und ich bin ziemlich groß. Bin schon sehr gespannt darauf, Sie kennenzulernen. Anny

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